Autoritarismus als (eine) Dimension demokratiedistanten Denkens


Autoritarismus bzw. autoritäre Denkmuster stellen eine ernsthafte Gefährdung demokratischer Strukturen und Lebensformen dar; und dies unabhängig regionaler oder ethnischer Begrenzungen. Auch wenn in diesem Beitrag ein Fokus auf Türkeistämmige gelegt werden wird, sind also die dabei wirksamen psychologischen Mechanismen, aus der hier das Problem des Autoritarismus betrachtet wird, von dieser kulturell-nationalen Zugehörigkeit entkoppelt. Und gerade dadurch lässt sich auch über potenzielle Auswirkungen auf eine multiethnische bzw. plurale Gesellschaft wie der Bundesrepublik skizzieren; vor allem vor dem Hintergrund, dass es seit den 90-er Jahren schon bekannt ist, dass für die Erklärung der Zunahme des Rechtsextremismus der Autoritarismus eine gewichtige Rolle spielt (Hopf, 1993), und Autoritarismus und nationale Identifikation eine der entscheidenden Hemmnisse bzw. Barrieren für die Akkulturation von Minderheiten bilden.

Zunächst ist der Frage nachzugehen, was Autoritarismus genau bedeutet und wo autoritäre Denkmuster ihre Wurzeln haben; denn Menschen werden nicht mit dieser Neigung geboren. Begrifflich verweist Autoritarismus auf die Neigung von Menschen nach einer klaren, rigiden sozialen Ordnung, bei der jedoch vielfach den rechtstaatlichen, demokratischen Strukturen misstraut wird und ein härteres Durchgreifen staatlicher Instanzen gefordert wird (Law and Order-Einstellung), aber auch zugleich im Leben die Tendenz vorherrscht, sich unterwürfig gegenüber Autoritäten zu zeigen (Lehrer, Priester, Polizei, Eltern etc.) sowie von einer prinzipiellen Akzeptanz der Ungleichheit von Mann und Frau auszugehen.

In der politischen Psychologie spielt die begriffliche wie empirische Erfassung des Autoritarismus bereits seit langem eine zentrale Rolle (Six, 1997). Denn schon in den 30-er Jahren hatten sich Fromm und Horkheimer (1936) mit ihren „Studien über Autorität und Familie“ eingehend diesem Thema gewidmet. Jedoch wurde Autoritarismus in der sozialwissenschaftlichen Diskussion erst ab den 50-er Jahren des letzten Jahrhunderts mit den Studien über den „Autoritären Charakter“ von Adorno, Frenkel-Brunswik, u.a. (1950) richtig hoffähig. Besonders die F-Skala (Faschismus-Skala) löste eine Welle methodischer wie inhaltlicher Streitpunkte aus. Die enge Bindung des Autoritarismusbegriffs an eine Charakterstruktur bzw. die damit verbundene triebtheoretische Konzeptualisierung, wie sie in den F-Skalen vorzufinden war, stieß auf heftige Kritik. Eingewandt wurde bspw., dass bei einer solchen Fundierung vor allem die Berücksichtigung der sozialen Faktoren fehlten, die das Entstehen des Autoritarismus begünstigen.

Eine bedeutende Weiterentwicklung des Autoritarismus-Konzeptes stellt die „Right-Wing-Authoritarianism Scale“ von Altemeyer (1981) dar. Sie ist eindimensional und enthält über 30 Items. Altemeyer zählt weltweit zu den führenden Forschern auf diesem Gebiet, der hierzu seit mehr als 30 Jahren über 30000 Studierende befragt hat. Er distanziert sich explizit von tiefenpsychologischen Annahmen über die Persönlichkeit und erklärt Autoritarismus vor dem Hintergrund der sozialen Lerntheorie. Autoritarismus wird dabei als eine soziale Einstellung verstanden, die durch Interaktion mit den Eltern, Peer-Groups, Schule, Medien etc. erlernt wird; insbesondere entwickelt sich nach Altemeyer Autoritarismus im frühen Jugendalter als das Ergebnis vorangegangener Erziehung zu Gehorsam und Konventionalismus. Als ein empirisches Konzept wird es durch die Faktoren autoritäre Unterwürfigkeit, Aggression und Konventionalismus gebildet (Altemeyer 1981, 1988).

Deshalb hat also eine pädagogische Fokussierung auf die Folgen autoritärer Verhaltensweisen und Erziehungspraktiken –jenseits der wissenschaftsinternen Bedeutung-, bedeutende sozialpolitische Implikationen. Denn wenn eines der grundlegenden Ziele der politischen Sozialisation Jugendlicher in der Entwicklung zum mündigen Bürger besteht, der demokratische Rechtsnormen versteht und anerkennt, die Würde des Einzelnen achtet, aktive Toleranz ausübt, eigene Ansprüche mit Ansprüchen anderer abstimmt sowie für gewaltfreie Konfliktlösungen bzw. prinzipieller Friedensbereitschaft optiert (Babo, 2007), so versteht sich von selbst, das Augenmerk auf die Ausprägung und Entwicklung von gravierenden Hemmnissen auf diesem Wege zu richten. Dabei kommt – neben den Erziehungspraktiken und Erziehungsstilen der Eltern – auch der Schule eine bedeutsame Funktion zu, denn Schule bildet nicht nur eine Sozialisationsinstanz von Jugendlichen, in der kognitive Bildung und Weltwissen vermittelt wird, sondern sie stellt auch den Ort dar, in der elementare soziale Verhaltensweisen und Kompetenzen ausgebildet bzw. in sozialen Interaktionen soziale Regeln ausgehandelt werden, die allesamt ihrerseits Rückwirkungen auf die Persönlichkeit von Jugendlichen haben. Schule kann also für die Entwicklung demokratienaher (indem bspw. starke Teilhabe und Mitbestimmungsmöglichkeiten für Schüler:innen geschaffen werden, indem Solidarität eingeübt wird etc.) oder auch demokratiedistanter Persönlichkeiten eine Schlüsselrolle spielen. Gleichwohl sind natürlich- neben den organisationellen Aspekten des Unterricht – auch die inhaltlichen Dimensionen der Bildung, aber auch Bilddungdauer und Bildungsqualität nicht zu vernachlässigen: Hier zeigen bspw. die Studie von Uslucan (2008), aber auch kulturvergleichende Untersuchungen (Mc Farland et al., 1993) sowie Studien im innerdeutschen Vergleich (Oesterreich, 1993), dass eine hohe Bildung im Allgemeinen mit geringeren Autoritarismuswerten korreliert und insbesondere von der gymnasialen Bildung ein liberalisierender Effekt ausgeht.

Die positiven Auswirkungen einer hohen Bildung können u. a. darin gesehen werden, dass Schüler, die über höhere kognitive Fähigkeiten verfügen, auch eher in der Lage sind, gesellschaftliche Hintergründe differenzierter zu betrachten, politische Propaganda eher zu erkennen, und nicht einem „Schwarz-Weiss“-Schema zu verfallen. Auch lassen sich in Studien Belege für einen positiven Zusammenhang zwischen Autoritarismus und Religiosität finden (Altemeyer, 1988), d.h. eine höhere Religiosität geht mit höherer Autoritarismusneigung einher.

Nicht zuletzt konnten bislang neben den Bildungseffekten auch häufig Geschlechtseffekte identifiziert werden: In der Regel wiesen männlichen Probanden höhere Autoritarismuswerte auf. Insofern lässt sich schlussfolgernd als pädagogische Implikation festhalten, dass insbesondere auf die Bildung von (jungen) Männern zu fokussieren ist.

Wie sehen die Zusammenhänge jedoch genau aus, wenn auf die Türkeistämmigen fokussiert wird? Autoritarismus, wie das Konstrukt in westlichen Gesellschaften definiert wird, gehört vermutlich in eher traditionalen, kollektivistischen Gesellschaften – wie beispielsweise für weite Teile der Türkei – zum gewöhnlichen Weltverständnis ohne einen Hinweis auf problematische Sozialisationserfahrungen und -verläufe. Möglicherweise findet hier eine Konfundierung autoritärer Haltungen mit traditionalen statt. Und auch in Deutschland gibt es einen relativ hohen Anteil von türkeistämmigen Zuwanderern, die eher als politisch-konservativ zu bezeichnen sind, wie sie das bspw. in der recht hohen AKP-Neigung bei ihrer Parteipräferenz bei den türkischen Parlamentswahlen zeigt.

In Europa bzw. in Deutschland wird Autoritarismus in der Regel eher mit politisch rechten Orientierungen assoziiert (auch wenn in der Forschung gelegentlich auch von einem „linken Autoritarismus“ gesprochen wird), politische Gruppierungen in der Türkei sind aber insgesamt tendenziell rechtslastiger als deutsche politische Parteien. Nationalismus bzw. ein offensiver Nationalstolz ist in der Türkei (und auch bei einem Großteil der Türkeistämmigen in Deutschland) weder ein politisches Problem noch Kennzeichen irgendeiner Randgruppe wie in Deutschland. So gehört bspw. die staatliche Bildung des Nationalstolzes systematisch zur curricularen Habitusbildung. Exemplarisch hierfür können folgende Aussprüche/Maximen Atatürks (des Republikgründers) aus den dreißiger Jahren genannt werden, die auch heute fast an jeder Schule – als Orientierungswerte- wiederzufinden sind:

1. „Ne mutlu türküm diyene“ (Wie stolz für den, der sich ein Türke nennen kann“).

2. „Türk, öğün, çalış, güven“ („Türke, rühme dich (sei stolz), arbeite und vertraue“).

Deshalb können autoritarismusaffine Einstellungen, wie etwa eine hohe Akzeptanz der sozialen Normen des Respektes für Autorität einerseits und ein ungebrochener Patriotismus, die in Deutschland eher zum politisch rechtem Spektrum zählen und in der Öffentlichkeit nicht oder nur zögerlich geäußert werden, in der Türkei unproblematisch und offensiv vertreten werden, was zum Teil auch in der Forschung die hohen Autoritarismuswerte Türkeistämmiger erklärt.

Insofern ist für die künftige Forschung zu bedenken, dass die Messung des Autoritarismus nicht kulturinvariant ist und insbesondere bei kollektivistischen Kulturen das Ausmaß des Autoritarismus überschätzt wird. Daher ist methodisch zu bedenken, Autoritarismus von inhaltlich ähnlichen Konzepten wie traditionelle Normorientierung, konservative Ideologie, Nationalismus, Vorurteile gegenüber Minderheiten etc. sauber zu trennen, was jedoch ziemlich schwer ist, weil diese Dimensionen häufig Bestandteile des Autoritarismus sind bzw. mit diesem stark konfundiert sind. Insofern bleibt es eine methodische Herausforderung, ein migrations- bzw. kultursensibles Instrument zur Messung des Autoritarismus (türkeistämmiger Jugendlicher) in Deutschland zu entwickeln.

Als eine denkbare Lösung dieses Problems kann die Theorie von Detlef Oesterreich (1997) betrachtet werden: Nach Oesterreich ist Autoritarismus eine Reaktionsform, die dann auftritt, wenn in Krisenzeiten Menschen Schutz und Sicherheit bei Autoritäten suchen. In dieser Konzeption entfällt also der Makel, mit dem gewöhnlich autoritäres Verhalten behaftet ist. Zentral sind bei ihm die situativen Faktoren, die das autoritäre Verhalten erklären: Die „autoritäre Persönlichkeit“ ist nach Oesterreich kein in der Frühphase der Sozialisation erworbenes Persönlichkeitsmerkmal, sondern stellt eine universelle menschliche Reaktion dar, in verunsichernden und überfordernden Situationen Schutz zu suchen und sich an Autoritäten zu orientieren (autoritäre Reaktion), die scheinbar (subjektiv) in der Lage sind, den erforderlichen Schutz bzw. Sicherheit und Orientierungshilfe zu bieten (Oesterreich, 1997). Die motivationalen Grundlagen, einer Person oder einer Institution Autorität zu attribuieren, sind in diesem Modell also Angst und Verunsicherung. Die autoritäre Reaktion führt dazu, sich in Krisenzeiten an denjenigen zu orientieren, die Macht haben; sie stellt insofern eine symbolische Partizipation an der Macht dar, die die erfahrene eigene Machtlosigkeit kompensiert. Demnach entstehen autoritäre Persönlichkeiten bzw. vielmehr autoritäre Verhaltensweisen genau dann, wenn lebensgeschichtlich starke Verunsicherungen erzeugt werden; dies kann sogar bei entsprechend großem situationalem Druck auch experimentell erzeugt werden (Oesterreich, 1997). Die Frage muss daher lauten, wieweit die jeweilige Gesellschaftsform solche Verunsicherungen bei ihren Mitgliedern erzeugt. Somit ist auch von der Idee in der frühen Autoritarismusforschung, nur totalitäre Gesellschaften erzeugten autoritäre Persönlichkeiten, Abschied zu nehmen. Auch demokratisch verfasste Gesellschaften können zur Ausbildung autoritärer Reaktionen beitragen, und zwar dann, wenn sie einerseits hohe Anforderungen an den Einzelnen stellen (Überforderung), zugleich aber auch ein hohes Frustrations- und Versagenspotential bergen und damit ängstliche Bindungen beim Einzelnen hervorrufen. Insofern ist die Gefahr auch für eine recht stabile Demokratie wie die Bundesrepublik genauso gegeben. Zusammenfassend lässt sich die autoritäre Persönlichkeit als die habitualisierte Bereitschaft verstehen, in Krisenzeiten mit einer Flucht in Sicherheit bietende Instanzen zu reagieren (Oesterreich, 1993). Subjektiv führt diese Einstellung, die mit einer Erwartung von Schutz und Geborgenheit von der Autoritätsinstanz einhergeht, zu einer Identifikation mit den Mächtigen und zu einer Steigerung des Selbstwertgefühls. Eine solche Konzeption lässt möglicherweise einen Vergleich zwischen Türkeistämmigen (oder auch Personen mit einem anderen Migrationshintergrund) und Einheimischen eher zu. Die pädagogische Implikation dieser Theorie ist zugleich, das Selbstwertgefühl sowie die intellektuellen Kompetenzen von (jungen) Menschen soweit zu steigern und zu festigen, dass sie nicht anfällig werden für einfache Lösungen und Verlockungen, an der Macht von (vermeintlich) Mächtigen zu partizipieren, indem sie sich ihnen intellektuell unterwerfen.

Zum Autor:

Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan ist wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung und Inhaber der Professur für Moderne Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen; Fakultät für Geisteswissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gewalt im Jugendalter, Moralentwicklung, psychosoziale Belastungen von Migrantenfamilien, Erziehungsstile im interkulturellen Vergleich, Wertedivergenzen aus kulturpsychologischer Sicht, Islamischer Religionsunterricht in Deutschland und zur Wissenschafts- und Psychologiegeschichte.

Literaturliste

  • Adorno, T. W., Frenkel-Brunswik, E., Levinson, D. J. & Sanford, R. N. (1950). The authoritarian personality. New York: Harper & Row.
  • Adorno et. al. (1973). Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt: Suhrkamp.
  • Altemeyer, B. (1981). Right wing authoritarianism. Winnipeg: University of Manitoba Press.
  • Altemeyer, B. (1988). Enemies of freedom. Understanding right wing authoritarianism. San Francisco, CAL: Jossey-Bass.
  • Babo, M. (2007). Jugenddelinquenz und die Chance der Moralerziehung. Zeitschrift für Sozialpädagogik, 2, 134–157.
  • Fromm, E. & Horkheimer, M. (1936/2005). Studien über Autorität und Familie. Reprint der Ausgabe Paris 1936. Lüneburg: Klampen.
  • Hopf, C. (1993). Autoritäres Verhalten. Ansätze zur Interpretation rechtsextremer Tendenzen. In H.-U. Otto & R. Merten (Hrsg.). Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutschland. Jugend im gesellschaftlichen Umbruch (S. 157-163). Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
  • McFarland, S., Ageyev, V., Abalakina, M. (1993). The Authoritarian Personality in the United States and the Former Soviet Union: Comparative Studies. In W. F. Stone, G. Lederer & R. Christie (Eds.)(1993), Strength and weakness – The authoritarian personality today (pp. 199- 225). New York: Springer.
  • Oesterreich, D. (1993). Autoritäre Persönlichkeit und Gesellschaftsordnung. Der Stellenwertpsychischer Faktoren für politische Einstellungen- eine empirische Untersuchung von Jugendlichen in Ost und West. München: Juventa.
  • Oesterreich, D. (1997). Krise und autoritäre Reaktion. Gruppendynamik, 28 (3), 259-272. Six, B. (1997). Autoritarismusforschung zwischen Tradition und Emanzipation. Gruppendynamik, 28 (3), 222-238.
  • Uslucan, H.- H. (2008). Gewaltbelastungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund In H. Scheithauer, T. Hayer & K. Niebank (Hrsg.), Problemverhalten und Gewalt im Jugendalter (S. 289-301). Stuttgart: Kohlhammer