Turanismus

Der Turanismus bezeichnet eine politische Ideologie, welche eine gemeinsame Abstammung der Türk*innen mit anderen Völkern wie etwa mit den finno-ugrischen und den mongolischen Völkern annimmt und die Vereinigung dieser zu einem Nationalstaat anstrebt. Der Name dieser Doktrin entstammt dem Begriff Turan, einem mittelasiatischen Tieflande, welches als vermeintliches Ursprungsland der Turkvölker gilt. Dieses „Reich Turan“ soll nun wiedererrichtet und in ihm die verschiedenen Völker zu einer politischen und kulturellen Einheit verbunden werden, mit Grenzen, die sich vom Balkan über Kleinasien bis nach China uns Sibirien erstrecken. Der Turanismus wird häufig fälschlicherweise synonym zum Panturkismus verwendet, letzterer umfasst in seinem Einheitsgedanken ausschließlich die Turkvölker, die übrigen u.a. oben angeführten Völker sind hierbei nicht mit inbegriffen. 

Kern der turanistischen Ideologie sind „eine irredentistische Politik und imperiale Träume von Überlegenheit und Macht. Die Hauptmotive einer Turanvorstellung sind immer Souveränität, Dominanz sowie die Durchsetzung einer Eroberungspolitik.“   

Die Ideologie kam in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf und erfreute sich unter den türkischen Intellektuellen des Osmanischen Reiches großer Beliebtheit. Das Reich sah sich im 19. Jahrhundert von enormen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Krisen begleitet und steuerte insbesondere nach Niederlagen in den Balkankriegen auf den eigenen Zerfall zu. Der Turanismus trat in diesem Kontext als rettende Ideologie auf, die eine neue Solidarität und Widerstandsmöglichkeit gegen den bevorstehenden Niedergang schaffen sollte. Yusuf Akçura, einer der wichtigsten Vertreter des Turanismus vertrat die Auffassung, dass die einzige Möglichkeit zur Rettung des Osmanischen Reiches in der auf einer ethnischen Grundlage basierenden Vereinigung aller Turkvölker zu einem Nationalstaat liege. Ziya Gökalp, ein Aktivist des nationalistischen Komitees für Einheit und Fortschritt İttiḥâd ve Teraḳḳî Cemʿiyeti, wurde hierbei zum zentralen Programmatiker der turanistischen Bewegung und schuf deren theoretische Grundlage. Nachdem die Jungtürken 1908 faktisch die Staatsmacht übernahmen, fand die turanistische Ideologie im Zuge der Überlegungen zur Zukunft des Osmanischen Reiches und seiner Gesellschaft eine rasche Verbreitung innerhalb der intellektuellen Elite. Es kam zur Gründung einer Vielzahl von Vereinen und zur Herausgabe diverser Zeitschriften, die im Kurs dieser nationalistischen Doktrin standen.  Dennoch war die Haltung der jungtürkischen Bewegung zu einem neuen Nationalstaat in der vorrepublikanischen nicht eindeutig definiert. Die Befürchtung, dass eine nationale Ideologie dem Ziel Westeuropas, Russlands, Armeniens und anderer christlicher Nationen, das Osmanische Reich zu teilen, in die Hände spielen könnte, war immer wieder Ursache für Zweifel an der Doktrin. Zudem wurden die Doktrinen der herrschenden Elite (neben dem Turanismus, bzw. dem Panturkismus, sind noch der Osmanismus und der Islamismus zu nennen) vorrangig von diesen selbst getragen und fanden keinen sozialen Rückhalt in der übrigen Gesellschaft. Erst als sich das Reich im Zuge des ersten Weltkriegs nun schlussendlich der Auflösung gegenübersah, begannen sich in der Türkei genuin nationale Ideologien durchzusetzen. In der türkischen Republik unter Mustafa Kemal Atatürk verloren die nationalistischen Ideen des Turanismus wiederum an Bedeutung, zumal die Vorstellungen einer außenpolitischen Neutralität entgegenstanden. Diverse turanistische Bewegungen und Medien wurden verboten und obwohl diese teilweise Jahrzehnte später wieder ins Leben gerufen wurden, haben sie ihre einstige Bedeutung verloren.

Dennoch haben derartige Überzeugungen bis heute am rechten Rand der Türkei überlebt und die Ideologie des Turanismus findet sich beispielsweise in der Bewegung der Grauen Wölfe und im übrigen Spektrum des türkischen Ultranationalismus sowohl in der Türkei als auch in europäischen Staaten wieder.