Ideologie
Kontext:
Diverse Ideologien der Ungleichwertigkeit, worunter sich auch Erscheinungsformen (ultra-)nationalistischer Ideologien subsumieren lassen, sind in vielen Gesellschaften eine Herausforderung für ein gleichberechtigtes und friedliches Miteinander und können sich und die Gesellschaft spalten. Entsprechende Bewegungen sind heterogen in ihren Entstehungsgeschichten, Organisationsstrukturen sowie Zielsetzungen. Doch die Verachtung von Menschgruppen, die nach den unterschiedlichen Definitionen der jeweiligen Ideologien als nicht zugehörig markiert werden, ist ein verbindendes Element. Diese Annahme von Ungleichheit zwischen Menschen stellt den Rahmen dar, in dem sich der türkische Ultranationalismus bewegt.
Türkischer Ultranationalismus – Einführung
Unter diesem Phänomen lassen sich eine Bandbreite an Bewegungen mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen zusammenfassen, die einen von einer heimatzentrierten Ethnizität geprägten Bezug zur Türkei aufweisen. Das bedeutet, dass die eigene nationale Zugehörigkeit – wie immer sie auch definiert wird – als zentraler Identitätsmerkmal fungiert und gleichzeitig überhöht wird. Im Zuge der Migration von Menschen aus der Türkei in den letzten Jahrzehnten haben sich in den 1970er Jahren erste Strukturen in Deutschland ausgebildet, die diesem Spektrum zuzuordnen sind und sich seither verstetigt haben.
An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass es sich hierbei nicht lediglich um einen ‚importierten Konflikt‘ handelt, wie oft angenommen wird, sondern um eine transnationale Bewegung, die ihre Wurzeln in der Türkei hat, ihre Bezugspunkte sich jedoch nicht auf die nationalstaatlichen Grenzen der Türkei beschränken. Wir sprechen hier von einer Bewegung, die mindestens von zwei Ländern – der Türkei und von Deutschland – beeinflusst und geprägt wird. Das bedeutet wiederum, dass die Szenen hierzulande und in der Türkei zwar ideologische Schnittmengen aufweisen und in bestimmten Punkten vergleichbar sind, jedoch nicht gleichgesetzt werden können. Die hiesige türkisch-ultranationalistische Szene sowie die in derartigen Kreisen verkehrende Menschen wurden und werden in erster Linie von deutschen gesellschaftspolitischen Entwicklungen und Rahmenbedingungen geprägt. Die Szene hat dementsprechend eigene Dynamiken und Strukturen entwickelt, die in der Türkei nicht vorzufinden sind. Unterschiedliche Themen stehen in den jeweiligen Szenen im Vordergrund. Dementsprechend ist der Umgang mit ultranationalistischen Erscheinungen hierzulande als gesamtgesellschaftliche Herausforderung zu bearbeiten.
Ideologie
Trotz der beschriebenen Heterogenität lassen sich folgende zentrale inhaltliche Schnittmengen erkennen, die in den jeweiligen Gruppierungen unterschiedlich stark das Organisationsgeschehen sowie die ideologische Ausrichtung beeinflussen:
Überhöhtes Nationalbewusstsein / Überhöhter Nationalstolz
Die ethnisch bzw. völkisch definierte türkische Identität und die damit einhergehende vermeintliche Unvergleichbarkeit stehen hier im Vordergrund. Hier geht es um das stolze Bekenntnis zum Türkischsein und zum Türkentum.
Streben nach einem großtürkischen Reich ‚Turan‘
Die aus der Endphase des Osmanischen Reiches stammende Idee eines großtürkischen Reiches ‚Turan‘ zur Rettung des seinerzeit auseinanderfallenden Vielvölkerstaates wird in der ultranationalistischen Szene aufgegriffen und weitergesponnen. Hier wird die Bestrebung nach einem Nationalstaat mit allen Turkvölkern angestrebt, die Turksprachen sprechen. Damit geht es hier um eine sprachlich geprägte Gemeinschaftsidentität.
Glorifizierung des osmanischen Reiches
Das Osmanische Reiche spielt für die Bewegung in vielerlei Hinsicht eine bedeutende Rolle. Dort werden die Wurzeln des Türkentums und somit der ‚ethnischen‘ Herkunft gesehen. Die einstige Größe, die Errungenschaften sowie die vermeintlich unvergleichbare Stärke des Reiches werden hochgehalten und glorifiziert. Das Problematische an dieser Art der Darstellung ist die idealisierte Herangehensweise an die beschriebenen Sachverhalte, die einen differenzierten Blick blockieren. So werden innenpolitische Auseinandersetzungen, Verluste, Konflikte nicht thematisiert bzw. nur einseitig betrachtet.
Bekenntnis zum Märtyrertum
Das Konzept des Märtyrertums nimmt einen zentralen Platz in der Bewegung ein. In zweierlei Hinsicht ist dieses von Bedeutung. Einerseits wird erwartet, dass Aktive der Bewegung sich für die Ziele der Bewegung aufopfern. Andererseits gilt die Anerkennung der Märtyrer*innen in der Szene.
Bekenntnis zum Islam
Die Einstellung zum Islam als identitätsprägender Faktor ist nicht eindeutig zu skizzieren. Die Rolle der Religionszugehörigkeit und -ausübung hat mitunter zu Spaltungen in der Szene geführt. Denn für einige Gruppierungen ist das Konzept der türkisch-islamischen Synthese, die das Bekenntnis zum Islam zu einem unabdingbaren Teil der türkischen Identität erklärt, ein Grundpfeiler der ultranationalistischen Ideologie. Für andere wiederum spielt der Islam in der Definition der türkischen Identität keine bzw. kaum eine Rolle. Zwischen diesen beiden Polen ist ein weites Spektrum an unterschiedlichen Positionen zu diesem Thema vorhanden, das von der oben beschriebenen Diversität innerhalb der Szene zeugt.
Die genannten Merkmale spielen unabhängig von der jeweiligen Gruppierung eine essenzielle Rolle. Auf dieser Grundlage wird zwischen Menschen, die dazugehören und jenen, die außerhalb des definierten Rahmens stehen und somit als minderwertig abgestempelt und in einigen Fällen auch als Bedrohung wahrgenommen werden, unterschieden. Extreme Spielarten der Ideologie innerhalb der Bewegung deklarieren ausgewählte Personengruppen (beispielsweise Kurd/innen, Jüd/innen, Armenier/innen) pauschal zu Feinden, die aufgrund ihrer ihnen unterstellen Illoyalität gegenüber türkischen Interessen und der daraus folgenden inneren Schwächung des nationalen Zusammenhaltes, ausgegrenzt, abgewertet und/oder vernichtet werden sollen. Verschwörungserzählungen sind unter anderem ein beliebtes Medium, worüber derartige Gedankenkomplexe transportiert werden.